Am Beginn einer therapeutischen Begleitung werde ich häufig gefragt: „Was denken Sie, wie oft muss ich kommen?“ Die Frage ist verständlich, doch für mich meist schwierig zu beantworten. Es hängt von mehreren Faktoren ab, ob eine therapeutische Begleitung eine wirklich fühlbare Veränderung im Alltag und im Leben bewirkt.

Aus der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und der Traumaforschung wissen wir heute, dass alles, was wir erleben, unser Gefühl für uns selbst prägt. Und dieses Erleben beginnt bereits vorgeburtlich, lange bevor wir das Licht der Welt erblicken. Wir sind ab unserer Zeugung fühlende Wesen. Diese allerfrühesten Prägungen speichern wir unbewusst („implizit“) in unserem Körper- und Zellgedächtnis ab. Implizite Erinnerungen sind uns also nicht bewusst und nicht wie explizite Erinnerungen (das Erinnerungsvermögen entwickelt sich ab ca. 3 Jahren) in einem Gespräch abrufbar.

Im späteren Leben, wenn wir erwachsen sind, wissen wir nicht mehr, warum wir beispielsweise in einer bestimmten Situation mit Stress, Angst und Schweissausbrüchen reagieren, wenn uns z.B. jemand berührt. Wir verstehen nicht, warum wir am liebsten alleine sind oder nicht gut alleine sein können, weil uns das ängstigt. Vielleicht fühlen wir eine Sehnsucht oder einen Schmerz, aber wir können nicht sagen, woher diese Gefühle stammen. Oder wir fühlen uns grundlos falsch und nehmen den uns zustehenden Platz im Leben nicht ein.

Babys und kleine Kinder erleben anders!

Unser Nervensystem ist vorgeburtlich und in den ersten Lebensmonaten und -jahren sehr vulnerabel, also äusserst verletzlich und verwundbar, da die Hirnstrukturen noch nicht voll entwickelt sind. Um unsere Verhaltensmuster zu verstehen, müssen wir uns bewusst machen, wie Babys und kleine Kinder Erfahrungen verarbeiten. Als Erwachsene stufen wir Ereignisse oft als nicht wirklich bedrohlich ein («war ja gar nicht so schlimm, ich hab’s überlebt»). Aber damals, für uns als Babys und Kleinkinder, waren Erlebnisse, wie z.B. alleingelassen werden, Demütigungen, Liebesentzug, Abwertungen und Beschimpfungen, zu grosse Verantwortlichkeiten, überhöhte Erwartungen oder Schuldzuweisungen extrem bedrohlich und beängstigend.

Kinder können von der Hirnentwicklung her derartige Erlebnisse nicht verstandesmässig erklären, einordnen und verarbeiten. Als Kinder müssen wir solche Ereignisse hinnehmen und gehen davon aus, dass wir dafür verantwortlich sind. Als Kind glauben wir, dass wir falsch sind oder schlecht, und dass etwas mit uns nicht stimmt. Diese schwierigen Erfahrungen sind der Boden, wie wir später die Welt und uns selbst sehen.

Verkörperung ist der Schlüssel!

Um aus unserer kindlich geprägten Realität herauszuwachsen, brauchen wir neue Erfahrungen in Bezug auf unsere alten Muster. Viele denken, Erkenntnisse zu haben, Bücher zu lesen und viel Wissen anzusammeln bringt sie weiter. Doch das allein genügt nicht. Unsere Einsichten müssen sich verkörpern können! Neue Referenzerfahrungen erleben wir dann, wenn wir das theoretische Wissen mit einem Körpergefühl verknüpfen. Dann kann unser Gehirn die alten Erfahrungen und Wahrnehmungen aus der Kindheit mit den neuen Erfahrungen als erwachsener Mensch überschreiben. Je mehr und je öfters wir unseren Körper in das Erleben einbeziehen, desto eher werden die neuen Erfahrungen unseren Alltag prägen.