Vor kurzem bin ich im Rahmen einer Weiterbildung zur Arbeit mit Schwangeren Frauen und Babys auf ein beeindruckendes kleines Buch gestossen: In «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück» verarbeitet eine junge Amerikanerin namens Jean Liedloff (1926 – 2011) ihre prägenden und beeindruckenden Erfahrungen von mehreren langen Besuchen in den 1950er-Jahren bei den Yequana-Indianern, einem «steinzeitlich» und sehr einfach lebenden Stamm in Venezuela’s Regenwald.
Das Buch wurde erst 1974 veröffentlich, setzte aber einen weltweiten Impuls, unseren gebräuchlichen, altüberlieferten Umgang mit unseren Babys grundlegend zu verändern. Jean Liedloff – eine Pionierin – begriff, welche Bedingungen die kindliche Entwicklung braucht, damit ein Baby ein Grundgefühl entwickeln kann von: «Ich vertraue dem Leben.»
Jean beobachtete bei den Yequana, dass kein Baby je weinte und kein Kleinkind in eine Trotzphase kam, wie bei uns in der westlichen Welt. Es gab keine Machtspiele zwischen Eltern und Kindern, und Teenager rebellierten nicht. Jean begegnete ausnahmslos Kindern mit viel Selbstvertrauen und Eigenkompetenz.
Woran konnte das liegen?
Jean Liedloff beschreibt unter dem Begriff „Kontinuum“ sehr eindrücklich und pionierhaft, wie die kindliche Erfahrung von dauerhaftem Getragen Werden, wie dauerhafter enger Körperkontakt und wie Stillen nach Bedarf des Babys die Grundlage legt, dass
- Kinder spüren, dass sie willkommen und wertvoll sind
- sie die Erwartungen der Eltern fühlen und erfüllen können
- sie sich sozial und kooperativ zeigen
- sie ein starkes Selbstbewusstsein aufbauen
Der folgende Ausschnitt ist eine ganz kurze Schilderung was geschieht, falls diese Erwartungen erfüllt sind und was die Folgen sind, wenn das nicht der Fall ist.
(…) «Wenn dem Baby durch die Erfahrung des Getragen Werdens alle damit verbundene Sicherheit und Anregung in vollem Masse zuteil geworden sind, kann es sich dem Kommenden, dem Draussen, der Welt jenseits der Mutter, freudig zuwenden, voller Selbstvertrauen und gewöhnt an ein Wohlgefühl, das seine Natur aufrecht zu erhalten neigt. Erwartungsvoll sieht es der nächsten Folge angemessener Erfahrungen entgegen. Jetzt beginnt es zu kriechen, wobei es häufig zurückkehrt, um sich der Gegenwart seiner Mutter zu vergewissern. Findet es sie in steter Bereitschaft, so wagt es ich weiter hinaus und kehrt weniger häufig zurück.
Das Bedürfnis nach Körperkontakt nimmt, wenn das entsprechende Erfahrungskontingent erfüllt worden ist, rasch ab, und normalerweise verlangt ein Baby, Krabbelkind, Kleinkind oder Erwachsener nur in Augenblicken von Stress, denn es mit seinen gegenwärtigen Kräften nicht bewältigen kann, nach Unterstützung seiner so erlangten Fertigkeiten. Diese Augenblicke werden zunehmend seltener und das Selbstvertrauen nimmt so rapide an Tiefe und Umfang zu, dass es jedem, der nur Kinder der Zivilisation kennt, welche der vollständigen Erfahrung des Getragen Werdens beraubt sind, erstaunlich vorkommen muss.
Wenn Kinder der westlichen Welt auf einigen Entwicklungsgebieten voraus sind, während andere zurückhängen, weil sie noch auf Vervollständigung warten, so ist die Folge eine Spaltung ihre Motive: Sie sind nicht fähig, etwas zu wollen, ohne zugleich zu wollen, dass sie Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sind; noch sind sie je im Stande, sich konzentriert dem jeweils vorliegenden Problem zuzuwenden, dürstet doch ein Teil von ihnen noch immer nach der sorglosen Euphorie des Säuglings in den Armen eines Menschen, der alle Probleme löst. Sie können auch nicht gänzlich von ihrer zunehmenden Kraft und Fähigkeit Gebrauch machen, solange noch ein Teil von ihnen sich danach sehnt, hilflos getragen zu werden. Jede Anstrengung steht in gewissem Masse in Konflikt mit dem darunter verborgen Wunsch nach dem mühelosen Erfolg des geliebten Babys.» (…)
~ aus «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück» von Jean Liedloff ~
Je länger ich in diesem spannenden Buch las, je klarer wurde mir, wie weit wir uns von einer natürlichen Lebensweise entfernt haben, welche dem «biologischen Programm» der kindlichen Entwicklung entsprechen würde, – und wie weitreichend die Folgen daraus für unser gesamtes Leben, die Umwelt und die Gesellschaft sind.
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können als erwachsene Menschen verpasste, nicht erlebte Erfahrungen von Geborgenheit, Sicherheit und (Selbst-)Liebe nachholen und solche Gefühle nachnähren.
In meiner Praxis in Berlingen begleite ich in Einzelsitzungen sowie auch in Workshops grosse und kleine Menschen mit ihren Bedürfnissen nach Bindung, Beziehung, Entwicklung und Wachstum.
Mit guten Wünschen für viel Selbstvertrauen!
Myriam